Hoch hinaus wollte ich, Leseprobe aus dem E-Book

Kapitel 1, E-Book - Ausgabe (weicht leicht von der Taschenbuchausgabe ab)


»Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist.« Er lief gleich durch, behielt die verdreckten Gummistiefel an, marschierte geradewegs über den Teppich und legte erst im Wohnzimmer seine dicke Jacke ab. Aus dem Eckschränkchen holte er zwei Pinnchen und einen Klaren. Seine Frau war ihm wie ein treuer Hund hinterhergelaufen und stand nun zutiefst verblüfft vor dem Sofa, bereit, die Jacke wegzuräumen.

  »Lass liegen«, sagte er. »Zum Wohl!«


Er war Jäger. Ursprünglich hatte er endlich die beiden maroden Sprossen an der Leiter zum Hochsitz reparieren wollen. Dazu war es aber nicht gekommen, weil er die merkwürdige Leiche entdeckt hatte mit dem kleinen, in Plastik gewickelten Buch, das daneben lag. Die Polizei hatte es ihm überlassen, weil niemand Interesse zeigte. Nicht einmal die einzige Tochter, die man ausfindig machen konnte. Auch sonst kümmerte sie der Tod ihres Vaters nicht. Um die Beerdigung wollte sie sich ebenso wenig kümmern. Aber das ging ihn wohl kaum etwas an und er machte sich auch nicht sonderlich viel Gedanken darüber. Wesentlich interessanter war für ihn die Tatsache, im Fernsehen gelandet zu sein. Nicht, dass er keinen Respekt vor dem Tod gehabt hätte oder gar in irgendeiner Form sensationslüstern gewesen sei. Aber eine Leiche findet man eben nicht alle Tage, erst recht nicht unter diesen seltsamen Umständen. Und es ist schon etwas Besonderes, interviewt zu werden, jedenfalls für einen Jäger. Es wurde ein richtiger Aufwand betrieben. Man sollte möglichst viel von dem Fundort sehen, ohne dabei die gesamte Umgebung zu sehr in den Hintergrund zu rücken. Gleichzeitig wollte man ihn selbst im Großformat zeigen. Er wurde sogar geschminkt, damit er natürlich wirkt. Diesen Widerspruch in sich nahm er widerstandslos hin. Die Fernsehleute wissen sehr genau, wie man das macht, jemanden zur Geltung kommen zu lassen. Nach ein paar Probeaufnahmen, die vorwiegend auch zur Findung der idealen Kameraeinstellung dienten, brachte er es fertig, locker und unaffektiert zu erzählen, was passiert war. Das hätte er ohne Schminke nicht anders gemacht. Mit dieser Einstellung stand er den Presseleuten von den Lokalblättern gelassen gegenüber.

  Die Tage vergingen ohne besondere Vorkommnisse. Alles war wie immer.


  »Ja, danke. Das ist nett. Wenn es eh keiner haben will.«

  »Mit wem telefonierst du da?«

  »Psst! Bitte? Nein, entschuldigen Sie. Ich meinte meine Frau.«

Kurze Zeit später legte er auf. Er war verärgert. Musste sie immer dazwischen quatschen, wenn er telefonierte? In mancherlei Hinsicht sind alle Frauen gleich.

  »War das wieder das Fernsehen?«

  »Nein.« Er nahm die Autoschlüssel und fuhr kommentarlos weg.


Nach eingehenden Untersuchungen war die Polizei zu dem Schluss gekommen, dass ein Fremdeinwirken an seinem Tod hundertprozentig ausgeschlossen werden konnte. Die Spurensicherung brauchte das Heftchen nicht mehr. Der Jäger hatte nach seiner Zeugenvernehmung außerordentlich neugierig darauf reagiert, sodass man beschlossen hatte, ihn zu kontaktieren, ob er es haben wolle. Warum sollten sie es ihm auch nicht geben? Selbst Presse und Fernsehen durften kurze Einblicke daraus veröffentlichen.


Seine Frau war ratlos. Was sollte sie mit dem Abendessen machen: zubereiten oder nicht? Ihr Mann konnte aufgewärmte Mahlzeiten nicht ausstehen. Wie sie es hasste, wenn er einfach wortlos wegging. Aus der Abstellkammer holte sie schließlich Eimer und Schrubber und begann zu wischen. Noch bevor alle Böden glänzten, kam er zurück.

  »Hier, kannst du haben. Ist mal was anderes.« Bei diesen Worten sah ihr Mann sie mit einem Blick an, den sie bisher noch nicht kannte.

  »Was ist das?«

  »Hat der aufgeschrieben, den ich gefunden habe.«

  »Ich muss noch zu Ende wischen.«

  »Du mit deiner Wischerei. Das kannst du ein anderes Mal machen.«

  Schrubber und Eimer legte sie daraufhin verdutzt weg, nahm die Aufzeichnungen und vergaß alles um sich herum.

  »Nach meinem Tode ist das Heft an meine Tochter zu übergeben. Was sie damit macht, bleibt ihr überlassen.«*

  Sie saß fassungslos am Küchentisch, das kleine Buch aufgeklappt.